Libanon: Die Chance auf einen Neuanfang
Immer wieder spricht der Papst, wie schon seine Vorgänger, von einem „Modell Libanon“ – gemeint ist damit das friedliche Zusammenleben ganz unterschiedlicher, auch religiös disparater Gruppen. Ghady el-Khoury ist der neue Botschafter Beiruts beim Heiligen Stuhl; er war vor ein paar Tagen zum ersten Mal bei der großen Neujahrsansprache von Franziskus an das Diplomatische Corps dabei. Und natürlich ist ihm gleich die große Aufmerksamkeit des Vatikan für sein Land aufgefallen.
Der Papst habe ihm „sehr liebevolle Worte für das libanesische Volk“ gesagt, so el-Khoury bei einem Besuch in unserem Radio-Vatikan-Studio. Und: „Viele Botschafterkollegen haben mir von ihren Treffen im Staatssekretariat erzählt und mir gesagt, dass sie auf den Libanon angesprochen wurden. Sie haben mich daran erinnert, dass mein Land ein Mittelpunkt der Diplomatie ist.“ Das bedeute für ihn „eine wichtige Verantwortung“.
„Der Libanon hat eine sehr schwere Zeit hinter sich. Seit 2019 befindet er sich in einer Krise, in der wir ein institutionelles Vakuum hatten, das die Krise verschärft hat. Wir hatten außerdem nicht die Macht, die Probleme zu beheben.“
Doch nach dem Militäreinsatz Israels gegen die Hisbollah im Libanon hat sich das Kräftegleichgewicht jetzt verschoben. Nach mehr als 800 Tagen des „institutionellen Vakuums“ gelang es den politischen Kräften in Beirut, dem Land wieder einen Staatschef zu geben. Das hatten vor allem die maronitischen Christen immer wieder gefordert, denn nach dem geltenden Proporzsystem steht ihnen der Präsidentensessel zu. Gewählt wurde Joseph Aoun, der Militärchef – ein Mann, der sich aus den Spielchen der politischen Elite in den letzten Jahren eher herausgehalten hat.
Aoun steht für Zuversicht und Stabilität
„Ich habe den Eindruck, dass die Wahl von Joseph Aoun in den letzten drei oder vier Jahren fast schon vorherbestimmt war. Er war die Persönlichkeit, der die Libanesen am meisten vertrauten, die für das Volk am meisten Zuversicht und Stabilität ausstrahlte. Irgendwie muss man der internationalen Diplomatie danken, vor allem aber - unter anderem - der Diplomatie des Vatikans, die sich unermüdlich dafür eingesetzt hat, dass es kein Vakuum für dieses Amt gab, das einem Christen zusteht und das wichtigste Amt im Nahen Osten ist, nämlich das des Präsidenten.“
el-Khoury war elf Jahre lang Geschäftsträger an der Botschaft seines Landes in Paris; vor seiner Berufung nach Rom arbeitete er als Direktor für politische und konsularische Angelegenheiten im Außenministerium in Beirut. Auch aus seiner Sicht hat sein Land Modellcharakter.
„Es gibt unter den Christen im Nahen Osten eine Auffassung, die besagt: ‚Wenn es den libanesischen Christen gut geht, geht es auch allen anderen gut‘. Auch für Muslime ist es wichtig, Christen im Libanon zu haben. Viele meiner Freunde sagen mir, dass der Libanon ohne Christen seinen Wert verlieren würde.“
Dennoch ist das jetzt kein Moment für salbungsvolle Worte. Vielleicht liegt es daran, dass die Hisbollah bis zum Militäreinsatz Israels zu mächtig geworden war, vielleicht auch daran, dass die Elite sich kaum um die Probleme des Landes gekümmert hat – jedenfalls hat der Libanon seit Jahren nicht seine Hausaufgaben gemacht. Darum ist er immer tiefer in eine politische, wirtschaftliche und soziale Krise gerutscht. Aoun kam jetzt auf Druck der USA und Saudi-Arabiens, auch der alten Mandatsmacht Frankreich, ins höchste Amt; aber sein Einfluss ist eher beschränkt, und sonderlich charismatisch wirkt der 60-Jährige auch nicht.
Mehrere Baustellen, die gleichzeitig bearbeitet werden müssen
„In seiner Antrittsrede hat der Präsident der Republik alle Dringlichkeiten detailliert beschrieben. Technisch gesehen gibt es mehrere Baustellen, die gleichzeitig bearbeitet werden müssen. Zu den dringendsten Prioritäten gehören die Stabilität im Süden des Landes und der Rückzug der israelischen Streitkräfte aus dem Libanon sowie der Beginn des Wiederaufbaus der völlig zerstörten Dörfer, sei es im Süden des Landes, in den südlichen Vororten von Beirut oder in der Bekaa-Ebene. Gleichzeitig haben wir enorm viele andere wirtschaftliche Baustellen, außerdem die der inneren Sicherheit oder die der Stärkung der Armee. All diese Baustellen sind wichtig. Wir sind so weit in Verzug, dass wir alles gleichzeitig bearbeiten müssen.“
Immerhin könnte der Umsturz im Nachbarland Syrien dem Libanon ein wenig Luft verschaffen. Viele der vor Assad in den Libanon geflüchteten Syrer denken jetzt über eine Rückkehr nach; und fürs erste dürfte von Damaskus keine Gefahr für den Libanon mehr ausgehen. Der Botschafter Beiruts beim Heiligen Stuhl hofft auf eine neue Ära der Freiheit im Nachbarland.
Syrien die Daumen drücken
„Was in Syrien passiert, ist ein großer Umbruch für das Land, das in den letzten fünf Jahrzehnten in der Ära Assad gelebt hat. Jetzt wird also eine neue Seite für die Menschen dort aufgeschlagen. Es ist Sache des syrischen Volkes, seine Zukunft so zu gestalten, wie es das für richtig hält. Auch wir wünschen uns ein stabiles und wohlhabendes Syrien. Ein stabiles Syrien kann sich auf den Libanon nur positiv auswirken. Ein demokratisches Syrien würde die Region in Richtung Stabilität drängen und dafür sorgen, dass man sich mehr auf die sozialen und wirtschaftlichen Probleme konzentrieren kann als auf die kleinen Kriege zwischen Nachbarn.“
Das Interview mit dem Botschafter führte Olivier Bonnel von Radio Vatikan.
(vatican news – sk)
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