Ukraine: Geiselhaft im Pflegeheim
Stefan von Kempis – Borodyanka
Da hörte die Direktorin eines psychoneurologischen Pflegeheims in der Nähe von Kyiv morgens das Geräusch von Explosionen. Sie entschied sich, trotzdem zur Arbeit zu gehen – ohne das Geringste zu ahnen von dem Drama, das ihr und ihren Schutzbefohlenen bevorstand.
„Unsere Einrichtung wurde zusammen mit unseren Patienten von russischen Truppen als Geiseln genommen. Genauer gesagt: von Truppen Kadyrows. Sie waren hier. Sie behandelten uns wie Geiseln. Sie zwangen uns, uns mit dem Gesicht nach unten auf den Boden zu legen. Wir mussten tun, was sie wollten.“
„Sie behandelten uns wie Geiseln“
Das erzählt Hanitska, eine ausgebildete Geschichtslehrerin, im September 2025 beim Besuch einer Delegation des Malteser-Ordens in Borodyanka. In diesem Städtchen, keine sechzig Kilometer von der Hauptstadt entfernt, liegt das von ihr geleitete Heim. Sie ist erst seit anderthalb Monaten im Amt, als der Krieg ausbricht. Am 26. Februar sieht sie vor dem Tor einen Panzer auffahren, auf dem der Buchstabe Z prangt. In diesem Moment sind etwa 400 Personen im Gebäude: Patienten und Betreuer, vor allem. Menschen, die bettlägerig oder auf den Rollstuhl angewiesen sind. Autistische Kinder. Auch einige Flüchtlinge.
„Von Beginn der Invasion bis Mitte März waren wir Geiseln dieser Truppen. Wir waren komplett umzingelt und saßen in der Falle ... Unsere Einrichtung war die einzige staatliche, die hiergeblieben war, weil alle anderen Vertreter der lokalen Regierung geflohen waren. Meine Einrichtung und ich persönlich waren also in gewisser Weise die einzigen Vertreter der Regierung hier während dieser Zeit. Darum kamen auch andere Einwohner hierher, um Hilfe zu suchen.“
Zum Dank an Putin gezwungen
Die Besatzer sind fast durchweg Soldaten aus Tschetschenien, berüchtigt für ihre Grausamkeit. Anfangs schießen sie auf die Fenster zur Straße hin, sobald sich dort ein neugieriges Gesicht zeigt. Doch an einem Tag Anfang März brechen dann etwa achtzig Bewaffnete in das Gebäude ein, durchsuchen alles, bedrohen die Verängstigten. Obwohl Minusgrade herrschen, müssen die Patienten sich ausziehen; die Soldaten suchen nach verdächtigen Tätowierungen. Hanitska wird gezwungen, ein Video aufzuzeichnen, in dem sie dem russischen Präsidenten Putin dafür dankt, dass sie und die ihr Anvertrauten noch am Leben sind.
„Es war sehr beängstigend“
„Die schutzbedürftigsten Menschen sind hier, und dennoch wurden wir als menschlicher Schutzschild benutzt“, sagt sie heute. „Ich meine, was sagt das aus? Es war sehr beängstigend.“ Ihre Geschichte sei inzwischen auch dem Internationalen Gerichtshof bekannt. „Ich wurde als Hauptopfer und Hauptzeugin dessen, was hier passiert ist, anerkannt, und wir durchlaufen jetzt Gerichtsverfahren. Viele Schritte dieses Verfahrens sind bereits abgeschlossen.“
„Nicht schießen, hier sind Menschen im Gebäude!“
Es sind Tage des Schreckens für die Menschen in der von der Außenwelt abgeriegelten Einrichtung. „Wir waren von Minen umgeben, und am Eingang zu unserem Gelände befand sich ein Posten der russischen Streitkräfte. Sie ließen Menschen herein, aber sie verboten jedem, nach draußen zu gehen. Sobald man hier hereinkam, konnte man also nicht mehr nach draußen gehen. Dieser Ort war aus russischer Sicht strategisch; sie nutzten uns als menschliche Schutzschilde, denn auf der anderen Seite der Front befanden sich ukrainische Streitkräfte, und die wussten, dass es Menschen bei uns im Gebäude gab. Darum hielten sie sich zurück. Ich war, solange es noch Netz gab, auf das Dach gestiegen; von da aus war es mir gelungen, den ukrainischen Kontakten per Facebook mitzuteilen, dass wir noch da waren, damit sie nicht auf uns schossen.“
Massengrab im Garten
Strom, Gas, Wasser, Heizung, Internetverbindung – nichts gibt es mehr in der Einrichtung. Wenn Angestellte vors Tor gehen, um Wasser aus einem Brunnen zu schöpfen, sehen sie überall Männer mit Maschinengewehren im Gebüsch. Immerhin lassen die Militärs einige Lebensmittel im Hof. „Wir haben hier eine Palliativabteilung. Menschen mit sehr schweren Krankheiten – sie begannen ohne angemessene medizinische Behandlung zu sterben. Darum musste ich eine Art Massengrab ausheben; darin habe ich acht Menschen begraben. Hier auf dem Gelände. Wir sahen jeden Tag russische Ausrüstung, russische Panzer ankommen. Und immer wieder gab es Beschuss, chaotischen Beschuss, ja. Das war unsere Realität...“
Insgesamt zwölf Insassen des Pflegeheims sterben in Maryna Hanitskas Einrichtung während der russischen Besatzung. Wenn die Direktorin heute von diesen Tagen im Frühjahr 2022 erzählt, steht ihr immer noch das Grauen ins Gesicht geschrieben. „Ja, wir wurden im Grunde genommen jeden Tag beschossen. Es war ständig, als würden Raketen um uns herum einschlagen. Wir waren von Bränden umgeben. Und jedes Mal hofften wir wirklich, dass die Rakete nicht unsere Anlage treffen würde.“
15 Minuten Zeit zum Packen
Am 13. März heißt es dann auf einmal: ‚Die ukrainischen Truppen sind in der Nähe‘, und man erlaubt eine Evakuierung des Gebäudes, in Richtung Zhytomyr. „Man gab uns 15 Minuten Zeit, um, sagen wir mal, zu packen. Aber wir hatten nur sehr wenige Fahrzeuge; also haben wir die Leute buchstäblich übereinandergestapelt, damit sie alle hineinpassten. Natürlich konnten wir unsere Ausrüstung nicht mitnehmen – also die Computer und alles, was wir hier hatten. Wir haben alles zurückgelassen.“
Erst Anfang April kann Hanitska erstmals wieder zurück nach Borodyanka. Die Russen sind zurückgeschlagen; ihr Plan, innerhalb kurzer Zeit Kyiv zu erobern, ist nicht aufgegangen. Das Städtchen hat starke Zerstörungen davongetragen – von denen man heute buchstäblich nichts mehr sieht, weil die Bewohner für einen schnellen Wiederaufbau gesorgt haben. Der Zustand, in dem Hanitska ihr Pflegeheim vorfindet, ist schockierend.
Alles kurz und klein geschlagen
„Offensichtlich hatten die Russen dieses Gebäude zunächst als eine Art Büro genutzt und ihn dann komplett zerstört. Sie haben alle Türen aufgebrochen, wie Sie hier sehen können, und alle Fenster zerbrochen. Sie haben tatsächlich alles geplündert, alle unsere Büros. Sie haben alles mitgenommen. Computer, Drucker, alles, was sie finden konnten. Und sie waren nicht gerade zivilisiert, sie haben in unseren Büros eine Art Toilette eingerichtet und sich dort einfach – ich möchte keine Schimpfwörter verwenden, aber sie haben sich einfach mitten in normalen Büros entleert. Als wir zurückkamen, mussten wir alles mühsam wiederaufbauen.“
Schnelle Hilfe durch Malteser
Eine Herkulesaufgabe, bei der ihr vor allem der Malteserorden hilft. Der Botschafter Antonio Gazanti Publiese di Cotrone, ein Italiener, taucht mit einer Übersetzerin in Borodyanka auf und fragt die Direktorin, was sie am dringendsten braucht. „Und in diesem Moment war mein Hauptbedarf zunächst einmal eine Waschmaschine, eine industrielle Waschmaschine. Denn wenn man eine große Einrichtung voller Menschen hat, von denen viele neurologische Erkrankungen haben, und man verfügt über keinen geeigneten Ort zum Waschen, dann ist das eine sehr schwierige Situation mit all den Bettlaken, die man jeden Tag waschen muss.“
Auch um Computer und Drucker bittet Hanitska die Malteser, denn daran hängen, wie sie betont, Arbeitsplätze. „Jeder Computer ist für uns der Arbeitsplatz für eine Person - und Und Sie müssen verstehen, dass die meisten meiner Mitarbeiter hier ebenfalls Opfer des Krieges sind. Die meisten von ihnen haben mindestens einen Angehörigen verloren. Ich hätte viele Menschen entlassen müssen, wenn es nicht schnell gelungen wäre, die Einrichtung wiederaufzubauen und die Arbeitsplätze dieser Menschen zu erhalten.“
„Viele kamen nur, um sich umzusehen“
In den Wochen nach dem Abzug der Russen kommen viele Interessierte, um sich bei Hanitska nach der Lage zu erkundigen, erzählt sie. „Aber auf nur sehr wenige von ihnen konnte ich mich verlassen; viele von ihnen kamen nur, um sich umzusehen, und gingen dann wieder, ohne etwas zu tun. Mit dem Malteserorden war das anders.“
Längst sind die Schäden im Pflegeheim beseitigt, die Patienten sind zurück. Jeder von ihnen verarbeitet die Traumata dieser Kriegszeit auf ganz eigene Weise, sagt Hanitska – und berichtet dann, wie es ihr selbst ergangen ist.
„Ich bin am Tag des Kriegsbeginns zur Arbeit gegangen und nicht mehr zu meiner Familie zurückgekommen. Meine Familie befand sich in einer anderen Stadt, die ebenfalls besetzt war, in Hostomel, und zwei Monate lang verlor ich jeglichen Kontakt zu ihnen. Zwei Monate lang wusste ich nicht einmal, ob sie noch am Leben waren. Es war schrecklich. Ich konnte sie erst nach sehr langer Zeit wiedersehen. Und dann wurde bei mir ein halbes Jahr nach der Befreiung eine schwere Krankheit diagnostiziert, gegen die ich jetzt immer noch kämpfe… Ich glaube, dass das tatsächlich Folgen des Stresses sind, den ich während dieser Zeit der Besatzung durchgemacht habe.“
Wenn Hanitska Besucher durchs Haus und den Garten führt, stoßen sofort Insassen des Pflegeheims dazu, neugierig und freundlich. Alles ist wieder einigermaßen in Schuss. Ihor, ein junger Mann mit kurzen Haaren, setzt sich für die Gäste ans Klavier und spielt die „Titanic“-Filmmusik: „Er komponiert selbst und dichtet“, erzählt die Direktorin. Die Titanic von Borodyanka ist nicht untergegangen - aber viel hat nicht gefehlt. Und Putins Eisberg ist immer noch unterwegs.
Hintergrund
Unser Autor hat im September 2025 an einer vom Malteserorden organisierten Reise durch die Ukraine teilgenommen. In seiner Podcast-Serie erzählt er von seinen Begegnungen mit Menschen und vom Drama des Kriegs.
Der Malteserorden ist seit mehr als dreißig Jahren in der Ukraine präsent. Seit dem Beginn des Krieges im Februar 2022 stellt er in einer gemeinsamen Anstrengung aller seiner Vereinigungen, Hilfskorps und etwa 1.000 Freiwilligen (sowohl ausländischen als auch ukrainischen) medizinische, soziale und psychologische Hilfe sowie sichere Unterkünfte für Vertriebene in der Ukraine und den Nachbarländern bereit.
Die Hilfe erreichte bislang etwa vier Millionen Menschen. Mehr als 10.000 Tonnen Hilfsgüter wurden an über 70 verschiedenen Orten verteilt; 300.000 Menschen wurden an den Grenzen versorgt und mehr als sechzig Unterkünfte für Vertriebene eingerichtet. Darüber hinaus hat der Orden 2022 zur Eröffnung einer Prothesenklinik in Lemberg beigetragen, um Opfern von Minenexplosionen zu helfen. Bis heute wurden dort mehr als 250 Prothesen bereitgestellt. Mit mehr als achtzig Millionen Euro ist das Engagement des Malteserordens in der Ukraine das bedeutendste seit dem Zweiten Weltkrieg.
(vatican news)