D: Christlich-jüdischer Dialog soll vor der „Zeit des Schweigens“ anknüpfen
Christine Seuss - Vatikanstadt
Die Stiftung hat es sich zur Aufgabe gemacht, Aktivitäten im Bereich christlich-jüdischer Zusammenarbeit – vor allem auf internationaler Ebene – zu fördern. Dazu gehört auch die Bekämpfung von Antisemitismus, Rassismus, Diskriminierung, aggressivem Nationalismus, sowie theologischer und anderer Vorurteile, heißt es auf der Webseite der Einrichtung. Auch dank dieser unermüdlichen Arbeit von Einzelnen war der christlich-jüdische Dialog in Deutschland ein „echtes Erfolgserlebnis“, meint Abi Pitum.
„Er war in einem solchen Maße erfolgreich, dass zumindest was die Kirchenleitungen betraf, Antisemitismus ein NoGo in den christlichen Kirchen war. Und es fanden sich auch erstaunlicherweise jüdische Gesprächspartner. Vor dem Krieg gab es keine christlichen Gesprächspartner - gleich nach dem Krieg gab es keine jüdischen Gesprächspartner. Aber dadurch, dass auch Rabbiner in Deutschland ausgebildet wurden, gab es dann auch jüdische Gesprächspartner, so dass, wie gesagt, der christlich-jüdische Dialog in Deutschland bis zum 7. Oktober ein unglaubliches Erfolgserlebnis war."
In eine Phase der Sprachlosigkeit eingetreten
Antisemitismus habe es natürlich nach wie vor gegeben und dieser werde wohl auch immer bestehen, räumt der Professor aus München ein.
„Aber es war kein Thema. Nach dem 7. Oktober hat sich leider sehr viel geändert. Insbesondere traten wir in eine Phase der Sprachlosigkeit ein. Der Dialog war einfach kein Thema mehr. Oder anders, die theologische Dimension wurde absolut von der politischen Dimension überwältigt. Und die Politik? Das ist ein großes Thema. Das Traurige ist, dass die Kritik an der aktuellen israelischen Regierung, die durchaus gerechtfertigt sein mag, nicht als Kritik an der Regierung benannt wurde, sondern als ,Israelkritik'. Wenn jemand italienische Politik oder chinesische Politik, indische oder auch nicaraguanische Politik kritisiert, dann geht es darum, dass man die Regierung oder die aktuelle Regierungspolitik kritisiert. Aber hier ist diese Bezeichnung ,Israelkritik' einfach in aller Munde. Und damit stellt sich es als Problem dar, dass es von der Bezeichnung her nicht um die Kritik an der aktuellen israelischen Regierung geht, sondern wirklich um das Existenzrecht dieses Staates, weil der Staat als solcher kritisiert wird. Das ist die große Problematik, unter der wir leiden."
Juden werden weltweit für Regierungspolitk verantwortlich gemacht
Eine zweite große Problematik bestehe darin, dass weltweit aktuell Juden für israelische, „zum Teil auch verfehlte Politik“, in „Geiselhaft genommen“ würden, analysiert Abi Pitum. Ihn als Münchner habe die jüngst erfolgte Ausladung der Münchner Philharmoniker von einem Musikfestival in Gent besonders bedrückt. Das Festival hatte den Auftritt des Orchesters mit der Begründung abgesagt, der Dirigent Lahav Shani distanziere sich nicht explizit von der israelischen Regierung und sei auch musikalischer Direktor des Israel Philharmonic Orchestra. Mittlerweile wurde durch einen iranisch-amerikanischen Kollegen Shanis eine Unterstützungs-Petition organisiert, die bereits mehrere tausende Unterschriften gesammelt hat.
„Das ist eine ganz fürchterliche Geschichte“, meint Pitum mit Blick auf die Entscheidung aus Gent: „Und das macht mich traurig als einen Menschen, der seit 40 Jahren im christlich-jüdischen Dialog tätig ist und der das zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat: dass all das, was ich in 40 Jahren zusammen mit vielen anderen wohlmeinenden Menschen Christen, Juden und nicht Religiösen aufgebaut habe, im Moment sinnlos oder vergeblich erscheint. Und das lässt mich traurig sein.“
Es sei wichtig, zwischen den Handlungen der israelischen Regierung und der jüdischen Gemeinschaft zu unterscheiden, hat auch Papst Leo in einem jüngst veröffentlichen Interview mit der Journalistin Elise Allen gemahnt. Leo XIV. führt dort aus, er bemerke eine leichte Verbesserung in den gegenseitigen Beziehungen. „Zum Glück: Das ist mein Eindruck, dass es - auch in ein paar Begegnungen, die ich bereits hatte - eine gewisse Annäherung gegeben hat. Ich glaube, dass die Wurzeln unseres Christentums in der jüdischen Religion liegen, und wir dürfen davor nicht die Augen verschließen. Ich denke, es gibt noch viel zu sagen und viel zu tun“, so das Kirchenoberhaupt. Dazu meint nachdenklich Abi Pitum:
„Ich erhoffe, dass wir da wieder anknüpfen können, wo wir standen, bevor plötzlich das große Schweigen entstand. Papst Leo ist da vielleicht optimistischer als ich. Aber es ist gut, dass wir jemanden haben an der Spitze der katholischen Kirche, der das vielleicht zu einer seiner wichtigen Aufgaben machen wird.“
75 Jahre Zentralrat der Juden
Wie wichtig jüdisches Leben auch in Deutschland ist, hat in diesen Tagen Bundeskanzler Friedrich Merz hervorgehoben. Wie Merz bei einem Empfang zum jüdischen Neujahrsfest Rosh Hoshana und dem 75-jährigen Bestehen des Zentralrates der Juden betonte, sei die jüdische Organisation „Lebensader der demokratischen Kultur“ und unersetzbarer Partner der Bundesregierung. „Die Bundesrepublik wäre für immer entwurzelt gewesen ohne jüdisches Leben, ohne jüdische Kultur in unserem Land", so Merz bei dieser Gelegenheit. Gemeinsam mit dem 75. Jahrestag des Zentralrates gelte es auch zu feiern, dass Juden und Jüdinnen in Deutschland wieder eine Heimat gefunden hätten, „trotz aller Widrigkeit, und obwohl der Antisemitismus nie fort war aus Deutschland."
Seit dem „barbarischen Angriff" der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 werde Judenhass „lauter, offener, unverschämter, gewaltsamer", betonte Merz, der dies ausdrücklich verurteilte. Antisemitische Rhetorik werde normalisiert. Auch der Kanzler erinnerte in diesem Zusammenhang an die Ausladung der Münchner Philharmoniker mit ihrem israelischen Dirigenten Shani von einem Festival in Belgien.
Gründung fünf Jahre nach der Schoah
Am 19. Juli 1950 war der Zentralrat in Frankfurt am Main gegründet worden - nur fünf Jahre nach dem Ende der Schoah. Mittlerweile sitzt er in Berlin. Zunächst war der Zentralrat für die wenigen überlebenden Jüdinnen und Juden eine Interessenvertretung für die Übergangszeit bis zur Ausreise. Doch etliche Jüdinnen und Juden blieben in Deutschland, und der Zentralrat entwickelte sich zu einer etablierten Interessenvertretung der jüdischen Gemeinschaft.
Heute ist er Dachverband von 105 Gemeinden mit etwa 100.000 Mitgliedern. Zum Zentralrat gehören Institutionen wie die Jüdische Studierendenunion Deutschland, das Militärrabbinat und die geplante Jüdische Akademie in Frankfurt.
Der Zentralrat habe sich etwa für rechtliche Weichenstellungen zur Wiedergutmachung des nationalsozialistischen Unrechts eingesetzt, sagte Merz. Er habe die Annäherung zwischen der Bundesrepublik und dem Staat Israel nach der Schoah begleitet. Auch habe er Jüdinnen und Juden, die ab 1990 aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland einwanderten, helfend zur Seite gestanden. Jüdisches Leben habe sich in Deutschland wieder „beheimaten“ können.
Aktuell gerate die Idee einer offenen Gesellschaft unter Beschuss, kritisierte Merz. „Und mit ihr das normative Fundament Deutschlands, Israels, der freiheitlichen Welt insgesamt: Menschenwürde. Universalismus. Demokratie. Das Gebot der Toleranz.“ Dieses Fundament speise sich „ganz wesentlich“ aus den jüdisch-christlichen Traditionen. „Ich möchte den Jüdinnen und Juden in Deutschland heute sagen: Ohne Sie kann es keine gute Zukunft für die Bundesrepublik geben.“
Glückwünsche aus der DBK
Auch die Deutsche Bischofskonferenz meldete sich an diesem Freitag mit einem Glückwunschschreiben zum Neujahrsfest zu Wort. In einem Brief an den Vorsitzenden des Zentralrates der Juden, Josef Schuster, schreibt der DBK-Vorsitzende Georg Bätzing angesichts des anhaltenden Dramas um die von der Hamas festgehaltenen Geiseln: „Der Wunsch nach Frieden bleibt auch in diesem Jahr, in dem sich nach wie vor israelische Geiseln in den Händen der Hamas befinden und sich die humanitäre Situation in Gaza zunehmend dramatisch entwickelt, von erschütternder Dringlichkeit. Angesichts dieser mich zutiefst bedrückenden Zustände hoffe und bete ich, dass die anhaltende Gewalt und der Terror bald enden.“
Gerade in diesen belastenden Zeiten sei es von besonderer Bedeutung, dass Christinnen und Christen und Jüdinnen und Juden eng beieinanderstehen. Bischof Bätzing nimmt auch Bezug auf das 60-jährige Jubiläum der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils Nostra aetate. Dieses Dokument habe „durch die in ihr enthaltene Hinwendung zum Judentum ein neues Kapitel christlich-jüdischen Miteinanders eröffnet, das sich seither in Lehre und Praxis der katholischen Kirche fortgesetzt und echte Veränderung im Dialog unserer Glaubensgemeinschaften angestoßen hat. Dass dieser Dialog auch von jüdischer Seite nach den traumatischen Erfahrungen der Shoah und im Bewusstsein einer langen Geschichte des Antijudaismus wieder aufgenommen wurde, ist alles andere als selbstverständlich“, so Bischof Bätzing.
Ein echter interreligiöser Dialog, wie ihn Nostra aetate anbahnen wollte, könne auch zukünftig nur dann gelingen, „wenn er auf Augenhöhe geschieht, das heißt, wenn er die Würde und Integrität des jeweils anderen anerkennt und die verbindenden Elemente unserer Traditionen bewusst in den Blick nimmt, ohne dabei Differenzen zu verwischen oder Unterschiede zu nivellieren“, so Bischof Bätzing.
(vatican news - cs)
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